Bernardino Mai - Christus reinigt den Tempel

Religiöser Markt

Während in Deutschland schon seit Jahren darüber diskutiert wird, ob es so etwas wie einen „religiösen Markt“ überhaupt gibt, ist dieser in Kanada und in den Staaten schon längst Wirklichkeit. Meine Gemeinde, die Trinity Lutheran Church, ist, wie der Name schon sagt, eine evangelisch-lutherische Gemeinde. In fußläufiger Nähe zu der Kirche befinden sich eine anglikanische Kirche, eine polnische römisch-katholische Kirche, eine Baptistenkirche, eine maronitisch-katholische Kirche, eine koreanische Pfingstkirche, eine weitere lutherische Kirche (mit einer anderen Synode als Trinity), eine UCC-Gemeinde (UCC=United Church of Canada), eine Herrnhuter Brüdergemeine, eine evangelikale Freikirche und eine weitere Baptistengemeinde.

Es ist vollkommen üblich, dass Eltern in eine Gemeinde gehen und die Kinder in eine andere. Es kommt auch nicht selten vor, dass man seine Gemeinde wechselt, weil einem woanders z.B. die Gottesdienste besser gefallen oder der Pfarrer besser singt oder das Angebot für Kinder besser ist oder Freunde dorthin gehen … ganz normale Gründe, die Gemeinde zu wechseln. Ich würde sagen, die Fluktuationsrate ist hier wesentlich höher als in Deutschland.

Manche Gemeinden arbeiten zusammen, andere nicht. Manche Gemeinden achten bei ihrer Zusammenarbeit darauf, ob die jeweils anderen das „richtige Bekenntnis“ haben. Manche Gemeinden haben Abendmahlsgemeinschaft miteinander, andere lehnen diese ausdrücklich ab. So arbeiten beispielsweise Trinity Lutheran und die anglikanische Kirche eng zusammen, aber die anderen Lutheraner in der Gegend lehnen Abendmahlsgemeinschaft mit den Lutheranern der „anderen Synode“ ab.

Es gibt hier zwei lutherische Synoden: Die ELCIC (=Evangelical Lutheran Church In Canada) und die LCC (=Lutheran Church–Canada), die sich miteinander schwer tun. Die Kirchen der ELCIC, der auch die Trinity-Gemeinde angehört, sind eher liberale oder liberal-konservative Lutheraner, während die LCC zu den restriktiven konservativen Kirchen zu zählen ist. Als die ELCIC im Jahr 2011 z.B. ihren Gemeinden freistellte, ob sie gleichgeschlechtliche Paare segnen möchten oder nicht, kam es zu einer Abwanderung von zahlreichen Pastoren der ELCIC in die LCC samt ihren Gemeinden (mehrere 10.000 Mitglieder). Die LCC lehnt die Abendmahlsgemeinschaft mit der ELCIC sowie die Ordination von Frauen ab.

Da es hier kein Kirchensteuersystem gibt, ist jede Gemeinde darauf angewiesen, ihre Kosten selbst zu decken: Gehälter (auch für Pfarrer), Gebäudeunterhaltung, Strom, Heizung, Telefon, Büro- und Werbungskosten usw. Das geschieht vor allem durch Spenden, insbesondere durch die sonntägliche Kollekte. Unter „Kollekte“ versteht man hier daher auch nicht etwa das Klimpergeld, das man in Deutschland noch vom Grunde des Portemonnaies kratzt, sondern größere Scheine, mit denen man sich durchaus am „Zehnten“ orientiert. Dementsprechend kommen jeden Sonntag auch viele Menschen in den Gottesdienst, um die Kirche zu unterstützen, damit die durchschnittlich wöchentlich benötigten Tausenden von $$ zusammenkommen. Natürlich muss man bedenken, dass die Kirche in den Sommermonaten wegen der Ferien nahezu leer bleibt. Ebenso an langen Wochenenden mit schönem Wetter. Dafür sammeln sich im übrigen Jahr im Schnitt rund 250-300 Gemeindemitglieder in den beiden Sonntagsgottesdiensten. Bei einer Gesamtgemeindegröße von rund 800 ist das recht beachtlich. In Deutschland würde ein Pfarrer da mit den Ohren schlackern.

Man kann sich als Gemeinde glücklich schätzen, wenn der Kampf ums liebe Geld nicht die Existenz bedroht und man den Geist frei hat für Verkündigung und andere kirchliche Aufgaben. Gelegentlich kommt es durchaus vor, dass Kirchen aus finanziellen Gründen ihre Pforten schließen, die Kirche verkaufen oder einen kompletten Neuanfang stemmen müssen. Da die Gemeinden ein vitales Interesse an ihrem Fortbestand haben, bringen sich viele Menschen ins Gemeindeleben ein. Überhaupt wird ehrenamtliches Engagement in Kanada in der gesamten Gesellschaft durchweg hoch geschätzt und gewürdigt. Wer sich nicht ehrenamtlich in die Gesellschaft einbringt, hat oft sogar wesentlich schlechtere Chancen, einen Job zu finden.

Der „religiöse Markt“ ist hier umkämpft – dementsprechend tut jede Gemeinde gut daran, ihre Nische zu finden und ihr theologisches und kulturelles Profil zu zeigen. Manche machen das über ihr kulturelles Erbe. Da in Kanada die meisten Menschen aus einer Einwandererfamilie kommen und ihre Ursprünge außerhalb Kanadas sehen (selbst wenn sie schon in zweiter oder dritter Generation hier leben), gibt es einige Gemeinden, die sich auf eben dieses Erbe spezialisiert haben. Trinity Lutheran war ursprünglich eine deutsche Gemeinde und bietet auch heute noch sonntäglich einen deutschen und einen englischen Gottesdienst an. Eine andere „Stellschraube“ ist die der ethischen und theologischen Konservativität in gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragen. Vom politischen Tagesgeschehen über sexuelle Orientierung, Abtreibung, Beteiligung an Kriegen, Einwanderungsregelungen, Sterbehilfe, Frauenordination, Ehefragen, Bibelverständnis etc. ist alles dabei. Auch die Gottesdienstform ist eine wichtige Schraube: Hat die Kirche eine Bühne, eine Kanzel, einen Altarraum – eine (ganz wichtig!) fest eingebaute Beamerleinwand? Hat sie jeden Sonntag eine Band, ein Orchester oder etwa eine Orgel, die spielt? Altbackene getragene Choräle oder fetzige Praise-Songs? Ehrwürdige barocke Töne oder oberflächlicher Hurra-Christen-Pop? Ist die predigt mitreißend und augenöffnend oder theologisch korrekt?

Für jeden gibt es auf dem religiösen Marktplatz ein kirchliches Angebot, das seinem Geschmack und seiner Tagesform entspricht. Durchaus schön, hat aber für jemanden, der das dank Kirchensteuersystem nicht gewohnt ist (wie mich), eventuell etwas Bedrohliches.

2 thoughts on “Religiöser Markt”

  1. Lieber Chris,
    Dein Artikel ist sehr informativ und gut geschreiben. Ich denke, er wäre es wert, auch als Zeitungsartikel veröffentlicht zu werden. Ich finde es fast zu schade, dass diese Informationen in einem geschlossenen Blog nur einem kleinen Kreis zugute kommen.
    Liebe Grüße
    R.J.

    1. Zu Reingard:
      Recht so, das wird sich Christopher gewiss nicht zweimal sagen lassen. Spätestens nach seiner Rückkehr in Old Johannisthal wäre dieser Artikel sowie ein Erlebnisbericht über die vielfältigen Eindrücke in und von Kanada für „die Kirche“ (Wochenzeitung in unserer Landeskirche), die „zeitzeichen“ (Monatsschrift zu Religion und Gesellschaft) und für weitere Zeitungen und Medien ein lohnendes Vorhaben. Wir freuen uns darauf!
      Zu „Religiöser Markt“:
      Die Überschrift und der letzte Artikelsatz verraten schon viel: ein „religiöser Markt“ kann so, wie beschrieben, neben erfreulicher Vielfalt und tollen Angeboten durchaus etwas recht „Bedrohliches“ sein. Nicht nur für Pfarrer(innen) und Mitarbeitende in ihrer Anstellung und in ihrem Lebensunterhalt, sondern ebenso für die (Landes-) Kirche insgesamt. Solch ein „Markt“ schafft ja nicht nur unterschiedlichste Chancen der Teilhabe, sondern zugleich potentielle bedenkenswerte Abhängigkeiten, z.B. vom Wohlwollen der jeweiligen Gemeinde(-glieder). Mir ist eine (Landes-) Kirche mit den diversen Strömungen und vielfältigsten Angeboten in Gemeinden und Kirchenkreisen im Ganzen lieber als dass jede religiös-christliche Gruppierung meint, eine eigene Gemeinde begründen und unterhalten zu sollen.
      Gewiss wäre es für manche Gemeinden und Mitarbeiter(innen) in unseren Landen sehr wohl recht heilsam, wenn sie sich ihre Schäflein erst einmal sammeln und durch beständige, attraktive Angebote ihre Herde dann zusammenhalten müssten. Aber: die oft zu Unrecht geschmähte Kirchensteuer sichert den Gemeinden, den Geistlichen, den haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern auch ein erhebliches Maß an Freiheit und Unabhängigkeit in ihrer Verkündigung und in ihren verschiedenen Diensten zu. Und das kann ein großer Gewinn für alle Beteiligten sein.
      Natürlich wünschten wir uns zugleich auch hier ein solches hilfsbereites ehrenamtliches Engagement – verbunden mit dieser Spendenbereitschaft – wie Christopher es in Kanada erlebt.
      Beste Wünsche für weitere, lebhafte Eindrücke und spannende Trekkingtouren!
      Siegfried

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